Přednáška: ITA HEINZE-GREENBERG: Stavění je blaženost

VYBRANÉ KAPITOLY ZE ŽIVOTA A DÍLA ERICHA MENDELSOHNA

22. 5. 2009 / Kabinet architektury / Dům umění Ostrava

Seznam Mendelsohnových děl začíná Einsteinovou věží. Nanejvýš svéraznou stavbou, při níž si člověk, ať už chce nebo nechce, klade otázku, kde tento mladý a zcela nezkušený architekt sebral tolik odvahy, aby s betonem zacházel jako s modelínou. Principy plynutí a elasticity – jeho vize nového jazyka architektury – platí se stejnou měrou pro tvorbu i život tohoto úspěšného stavitele, pracujícího po celém světě.

 

Ita Heinze-Greenberg

„Bauen ist Glückseligkeit“

Ausgewählte Kapitel aus dem Leben und Werk Erich Mendelsohns

Der Orientale aus Ostpreußen

Gegen Ende seines Lebens mag der Architekt Erich Mendelsohn rückblickend seinen Werdegang mit dem Klischee vom ewig wandernden Juden verglichen haben: Deutschland – England – Palästina – Amerika; vier Länder in drei verschiedenen Erdteilen und drei unterschiedliche Staatsangehörigkeiten im Laufe seines 66jährigen Lebens. Ein bewegtes Leben: „Panta rhei“. Alles war für ihn in Bewegung begriffen. Architektur selbst verstand er als erstarrten Moment innerhalb einer Bewegung, als eine augenblickliche, einmalige Lösung innerhalb eines ewigen Flusses.

Für seine frühen Betonkonstruktionen wählte er zuweilen den Ausdruck vom „elastischen Prinzip“, dies passt zweifellos auch im übertragenen Sinn auf seine Lebensphilosophie. „Genie muß durchweg elastisch sein, sich immer erneuern, um sich zu erfüllen.“1 Alles, was ihn in seiner Bewegungsfreiheit hinderte, seine Flexibilität hemmte, war ihm Ballast, den es abzuwerfen galt: „Alles kommt darauf an, leicht zu sein und beweglich. Wer sich die Bewegung verbaut – verkalkt.“2 Augenblicklich neue Positionen beziehen zu können, Standorte zu wechseln, Blickrichtungen zu ändern, blitzschnell auf neue Situationen reagieren zu können – das gab ihm Sicherheit.

Mendelsohns Leben bewegte sich zwischen zwei Polen, in deren Magnetfeld sich seine Lebensbahnen nachzeichnen lassen. Sie kommen in seiner mehrfach und meist scherzhaft geäusserten eigenen Definition als „Orientale aus Ostpreußen“ zum Ausdruck. Er fühlte sich zwei Empfindungskreisen zugehörig. Diese beiden Kreise waren diametral gepolt und verursachten nicht selten Spannungen, innere und äußere, die Mendelsohn jedoch grundsätzlich als anregend empfand, da sie ihn in Bewegung hielten.

Beide Kreise lassen sich in seiner Biografie verorten. Ostpreußen – seine physische Heimat, sein Geburtsort: die masurische Stadt Allenstein. Der Orientale – er fühlte eine atavistische Verbindung zu Jerusalem, eine geistige Beheimatung in der Heiligen Stadt, wo er zwischen 1934 und 1941 lebte und arbeitete.

Mendelsohn wurde 1887 in Allenstein (heute Olsztyn, Polen) geboren, wo er die ersten prägenden zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte. Die Verhältnisse im Hause Mendelsohn waren relativ bescheiden. Der Vater, David Mendelsohn (1854-1937) betrieb im Erdgeschoß des Wohnhauses ein Herrenbekleidungsgeschäft, mit dem er den Unterhalt der kinderreichen Familie sicherte. Der häusliche Alltag war nicht spezifisch jüdisch geprägt, sondern eher patriotisch deutsch. Es dürfte die für die Mehrheit der deutschen Juden zutreffende Definition vom treuen Reichsbürger jüdischen Bekenntnisses gelten.

In seiner Geburtsstadt konnte Mendelsohn noch während seines Architekturstudiums sein erstes architektonisches Projekt – eine sakrale jüdische Bauaufgabe – verwirklichen: eine Totenhalle und ein Pförtnerhaus für den jüdischen Friedhof. Schlichte Bauten. Die zentrale Halle ist zelt-, beziehungsweise pyramidenförmig gestaltet und mit einem Dekor versehen, das man als orientalisch inspirierten Jugendstil beschreiben könnte.

Laut eigenen späteren Erzählungen wusste der Student Mendelsohn dieses Projekt doppelt zu nutzen: Er reichte die Pläne seinem Münchner Professor für Baustilkunde als Übung im Renaissancestil ein. Wenngleich der Entwurf nach Auffassung seines Lehrers nichts mit Renaissance zu tun hatte, habe er ihn großzügig als „verrückt, aber ungewöhnlich verrückt“3 akzeptiert.

Seinen offiziellen Werklisten, die fast immer mit seinem großen Wurf, dem Einstein-Turm, beginnen, verschwieg Mendelsohn dieses Projekt. Und doch: Von diesem bescheidenen Bau aus seinen Studententagen läßt sich ein weiter Bogen zu seinen großen späten Synagogen in Amerika ziehen. Bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass Mendelsohns architektonisches Schaffen mit einer sakralen Bauaufgabe beginnt und nach einer langen erfolgreichen Karriere als Waren- und Bürohausarchitekt gegen Ende seines Lebens zur sakralen Architektur zurückfindet. Es hat etwas von einem sich schließenden Kreis an sich.

Demgegenüber steht eine Geschichte von Brüchen, Lücken, Verlusten und der Versuch, Zerstörtes und Verlorenes, nämlich das europäische Judentum, nach langen Irrfahrten an einem anderen Ort, in der Neuen Welt, wieder zu errichten, ihm eine neue Form und Festigkeit zu verleihen und damit seine Existenz und Identität zu wahren.

Mendelsohn hegte zionistische Träume und war seit seiner Studentenzeit Mitglied der zionistischen Organisation; zu Zeiten guter Einkünfte unterstützte er sie auch finanziell. Manche Hauskonzerte, die Mendelsohns in ihrem Berliner Haus veranstalteten und bei denen neben so etablierten Musikern wie Lili Kraus und Alice Ehlers auch bisweilen Albert Einstein die zweite Geige spielte, wurden als Benefizveranstaltungen zugunsten der zionistischen Organisation ausgerichtet.

Über Mendelsohns zionistisches Engagement schrieb seine Frau: „Er bewunderte den konstruktiven Ansatz der zionistischen Bewegung, der sich gegen die schicksalhafte Ergebenheit in das jüdische Dilemma richtete, gegen das Jammern und Klagen. Er sah in dem Bemühen der zionistischen Bewegung, einen eigenen jüdischen Staat zu errichten, zumindest den Versuch etwas Konstruktives dagegenzusetzen.“4

Doch für Mendelsohn steckte noch weit mehr als eine pragmatische Konstruktion dahinter. Er fühlte eine mystische Verbindung zum „Land seiner Väter“: „Wir verbinden als Sprößlinge des orientalischen Judenvolkes einen mehr oder weniger wesentlichen Teil unseres Daseins mit dem Boden Palästinas, aus dessen bisweilen geradezu erschütternden Gegensätzen der eindeutige Monumentalbau der Bibel und ihr moralisches Gesetz entstanden ist….Kein Jude, der sich über seine Empfindungen klar zu werden vermag, bereist Palästina ohne die tragische Berührung mit seiner eigenen Vergangenheit, ohne demütige Hoffnung auf seine Wiedergeburt.“5

Als er später, 1935, mit dieser Hoffnung beladen seine Zelte in Palästina aufschlug, war es ihm darum, die beiden Pole, die ihn bestimmten, das West und Ost, oder – wie er es so wunderbar nannte – das „Preussentum mit Muezzinturm zu vereinigen“.6 Das war seine Utopie von Heimat. Doch war die politische Realität im „Land seiner Väter” nicht auf Dialog und nicht auf Vereinigung eingestellt, sondern auf Separation und Abschottung. Mendelsohn zog die Konsequenz. Er nutzte die innere Spannung der Gegensätze, die er nicht aufzulösen vermochte, nicht harmonisieren und zur Ruhe bringen konnte, um weiterzuwandern. Heimatlos. Aber in Bewegung – kontrapunktisch – in Zeit und Raum.

Die Skizzen

Während der Semesterferien im Sommer 1911 reiste Mendelsohn einen Monat lang – für mehr reichte das Geld nicht – durch Italiens wichtigste Städte, um die großen Meister zu studieren. In Florenz sah er Michelangelos Architekturzeichnungen, deren Ungenauigkeiten im Detail ihn erstaunten. Und ermutigten. Theodor Fischer, Mendelsohns Professor in München, bemerkte die Konsequenzen in den Arbeiten seines Schülers: „Mendelsohn, was ist Ihnen in den Ferien passiert? Sie arbeiten so viel freier?“ Worauf Mendelsohn erwiderte: „Ach, was Michelangelo kann, das kann ich auch.“7

Eine wunderbare Anekdote, die vielleicht unwichtig für Mendelsohns künstlerische Entwicklung sein mag. Und doch könnte die Entdeckung des Wesens der Skizze zur Visualisierung eines Gedankenflusses, der in die Bewegung der Bleistift haltenden Hand übertragen wird, die wichtigste Entdeckung seiner Studienreise durch Italien gewesen sein. Es sollten allerdings noch drei weitere Jahre vergehen bevor Mendelsohn den Vorgang, seine Visionen auf Papier zu bringen, wirklich meisterte. Dann allerdings wurde die schnelle – beinahe hingerotzte – Skizze zu seinem unverwechselbaren Markenzeichen.

Weder die Meditation, die beim minutiösen Ausarbeiten von Details zur Vertiefung und langsamen Entfaltung eines Gedankens führt, und nicht die Reihung, die Variationen auslotet, sollten Mendelsohns Entwurfspraxis bestimmen, sondern das augenblickliche, unmittelbare Erfassen einer architektonischen Idee, eines Gedankenbildes.

Mit diesem Ansatz stand er zeitgleichen Bestrebungen in der expressionistischen Malerei nahe. So hatten sich die jungen Maler der Brücke nur wenige Jahre zuvor in ihren „Viertelstundenakten“ eine rasche und knappe Wiedergabe formaler Zusammenhänge regelrecht antrainiert. Es ging ihnen um die schnelle Erfassung des Wesentlichen, das in Kürzeln „stenographisch“ notiert wurde. Das vom Auge aufgenommene Bild sollte unmittelbar und unverfälscht auf den Karton gebracht werden. Damit zielten sie letztlich auf einen von der Intuition geleiteten Prozess, „bei dem das Bewußtsein als wertende Instanz so weit wie möglich umgangen werden sollte.“8

Mendelsohn dürfte mit den Arbeiten und Verfahren der Brücke-Künstler bestens vertraut gewesen sein. Und zwar nicht allein durch Ausstellungen im Neuen Kunstsalon München. Im Winter 1913/14 hatte Luise über ihren Königsberger Freund Walther Heymann9 die Bekanntschaft Max Pechsteins gemacht, aus der in der Folge eine Reihe von fünf Ölportraits von Luise enstanden. Beim ersten Atelierbesuch hatte Pechstein spontan Luises Gesichtszüge mit wenigen Kohlestrichen aufs Papier gebannt.10 Nur Wochen später legte Mendelsohn seine ersten bahnbrechenden Architekturskizzen Luise zu Füßen.

Vielen Mendelsohn-Kennern gelten seine frühen visionären Skizzen, die zwischen 1914 und 1920 entstanden, als das beste, was Mendelsohn geschaffen hat. Sie sind Visionen eines jungen Architekten, der sich in die scheinbar unlimitierten Möglichkeiten hineinträumt, die das neue Baumaterial Eisenbeton bietet. Ausgehend von seinen elastischen und plastischen Qualitäten versuchte er hier zu einer völlig neuen, revolutionären Architektursprache zu gelangen.

Die meisten dieser Skizzen sind während des ersten Weltkrieges entstanden, in dem Mendelsohn drei Jahre als Soldat zunächst an der russischen, dann an der französischen Front diente. Das heißt, sie sind nicht an einem gut beleuchteten Zeichentisch eines geheizten Büros entstanden, sondern in den Unterständen und Schützengräben, zumeist in der Dunkelheit während seiner Nachtwachen.

Die physische wie psychische Extremsituation, der er an der Front ausgesetzt war, die das Sein auf die bloße Existenz reduziert und gleichzeitig die Nerven bis zum Äußersten spannt, verursachte ekstatische Zustände, aus denen heraus er seine Skizzen aufs Papier warf. Mendelsohn schrieb von Zeichenfieber, das anfallsartig über ihn kam: „Heute früh schon hinter Blättern. Die Gesichte sind wieder hinter jedem Lichtkranz, jedem Blutkörperchen im geschlossenen Auge. Massen, die reif dastehen, im Augenblick sich ziehen, verschieben, so daß es der Hand fast unmöglich ist, sie annähernd festzuhalten. Ich bedaure, daß Hand und Gesicht nicht in maschinellem Zusammenhang stehen. Aber der Widerstand zwingt scheinbar erst zur Form.“ 11

Was er auf kleinstem Format festhielt – Papier war knapp bemessen – waren monumentale Architekturvisionen. Der offene Sternenhimmel über ihm scheint sein Limit gewesen. So nimmt es nicht Wunder, wenn es immer wieder Observatorien sind, die er in übereinandergestaffelten Massen gen Himmel türmt. Neben den Sternwarten, die später zur Planung des Einsteinturms überleiteteten, waren es hauptsächlich Industrie-Themen, die Mendelsohn zu dieser Zeit beschäftigen.

Er skizzierte riesige Werkshallen, Bahnhöfe, Getreidesilos, Flugzeughangars, Frachthallen, Karosseriefabriken, Hafenbauten. Nach eigenen Aussagen waren seine Skizzen von der Erkenntnis durchdrungen, „daß die elastischen Eigenschaften der neuen Baumaterialien Stahl und Stahlbeton notwendigerweise eine Architektur herbeiführen würden, die sich grundsätzlich von allem bis dahin bekannten unterscheiden mußte.“12

Ganz im Gegensatz zu Bruno Taut etwa und der „Gläsernen Kette“ interessierte Mendelsohn von den drei neuen Baumaterialien Glas – Eisen – Beton das Glas am wenigsten. Die 1919 in der Berliner Galerie Paul Cassirer gezeigte Ausstellung seiner an der Ost- und Westfront entstandenen Skizzen nannte er denn auch “Architekturen in Eisen und Beton“. Zu diesem Zweck hatte er die kleinen Skizzen mit schwarzer Tusche zu großen Tafeln umgearbeitet. Von den meisten Kritikern wurden sie dennoch als „nette Vignetten“ missverstanden.13

Mendelsohn verabschiedete sich von seinen imaginären Skizzen – Musikskizzen ausgenommen – als er mit dem Bauen begann. Das heißt, es gab weiterhin Bauskizzen, aber diese lassen sich eindeutig von den Phantasiezeichnungen unterscheiden. Sie sind „relativ“: bezogen auf die Bauaufgabe, auf das konkrete Grundstück, auf die späteren Benutzer seiner Architekturen.

Den Entwurfsprozess beschrieb er einmal wie folgt: „Ich sehe den Bauplatz, die Fläche, den Raum. Meine Fläche, meinen Raum, von denen ich erregt Besitz ergreife. Meist schon in diesem Augenblick erscheint spontan die architektonische Idee. Ich fixiere sie als Skizze. […] Die erste Skizze hüte ich. Denn als Erlebnis, als Gesicht hat sie Realität, Plan und Aufbau zum architektonischen Organismus verdichtet. Ein Einfall, eine Schöpfung. […] Oft führt die Arbeit zu Umwegen, d.h. Verstand und Rechnen kämpft bedrückend gegen die Intuition. Aber letzen Endes behält die erste Skizze ihr Recht. Behält sie Recht, so ist das ein untrügliches und befreiendes Zeichen, daß die Arbeit auf dem Wege ist, ein Kunstwerk zu werden. So sehr begebe ich mich in die Herrschaft des Unbewußten.“14

Das Recht der Intuition und die Herrschaft des Unbewußten. Hier klingen die Theorien Kandinskys an, etwa seine Ausführungen in der 1911 erschienenen Schrift Über das Geistige in der Kunst oder im Almanach des Blauen Reiter vom Jahr darauf. Kandinskys Weg in die Abstraktion führte über Reflexionen zur Unmittelbarkeit des seelischen Ausdrucks in der Malerei. Es ging ihm um die Visualisierng eines inneren Bildes mit den Mitteln der Kunst.

Wir dürfen davon ausgehen, dass Mendelsohn die Tendenzen und Bestrebungen seiner um einige Jahre älteren Künstlerkollegen von der Brücke und vom Blauen Reiter nicht nur gekannt, sondern begierig aufgesogen hat. Vergessen wir auch nicht, dass er in seinen Münchner Jahren die Malerei für sich selbst in Erwägung gezogen hatte. Doch in diesem Bereich hatten andere bereits Neuland beschritten und ihre Fußstapfen waren unübersehbar.

Mit der Übertragung der Methode der schnellen Skizze eines inneren Bildes auf das Gebiet der Architektur betrat er zweifellos noch unberührten Boden. Jedoch war dieser aufgrund der Schwere, die der Baukunst zueigen ist, ungleich schwieriger zu bearbeiten. Die prinzipielle Abhängigkeit der Architektur von außer ihr existierenden Faktoren wie Ortsgebundenheit, Materialien, Statik und Funktion hemmt die freie Entfaltung intuitiver Kreativität. Desto erstaunlicher und umso mutiger ist es, dass Mendelsohn den gesamten, überaus komplexen Bauorganismus in einer ersten, fast spontanen Skizze bereits erfassen konnte. Das heißt, die Idee muß vor seinem geistigen Auge derart Gestalt gewonnen haben, dass er sie nur noch abzuzeichnen hatte.

Man hat spekuliert, dass seine imponierenden, in einem Schwung hingeworfenen Architekturperspektiven möglicherweise erst nach Fertigstellung der Bauten entstanden. Das mag in Einzelfällen so gewesen sein – vermutlich bei der berühmten, immer wieder publizierten Einsteinturm-Skizze. In der Regel jedoch entstanden die Skizzen – nachweisbar allein schon anhand der Datierungen – vor der Bauausführung. Darauf beruhte nicht zuletzt Mendelsohns Stolz, seine Selbsteinschätzung als Genie, das den Bau in seiner Gesamtheit einer Offenbarung gleich als Ganzes empfängt.

Bei einem Vergleich der Skizzen mit den ausgeführten Bauten gewinnen – wenn es auf effektvolle Dramatik und dynamische Spannung ankommt – fast immer die Skizzen die Konkurrenz. Sie imponieren durch eine meist aus der Untersicht gegebene extreme Weitwinkelperspektive, die den Betrachter in ihren Sog zieht, ihm Energie- und Bewegungsstrom suggeriert, ihn förmlich um die Bauten herumschnellen läßt.

Mit ungewöhnlichen und überzogenen Perspektiven als künstlerisches Mittel zur Eroberung von Raum und Zeit arbeitete neben der expressionistischen Malerei auch die zeitgenössische Fotografie, der Mendelsohn grosses Interesse entgegenbrachte, bisweilen sogar eigenes Engagement. Für die hier angeschnittenen Sujets von Sehraum und Raumsicht, von Ansicht und Durchblick, von Verkürzung und Aussicht dürfte Mendelsohn durch seine eigene Sehbehinderung hochgradig sensibilisiert gewesen sein.

Er litt zunächst an Kurzsichtigkeit. 1921 wurde ihm aufgrund einer Krebserkrankung das linke Auge operativ entfernt und durch ein Glasauge ersetzt. Seither mußte er sich auf die Sehkraft nur eines Auges verlassen und sich mit einem stark eingeschränkten Gesichtskreis und reduziertem perspektivischen Sehvermögen arrangieren. Er war darauf angewisen, das ihm fehlende Blickfeld durch Aneinanderreihung mehrerer kleinerer Ausschnitte, die er durch eine Bewegung des Kopfes gewann, vor seinem geistigen Auge zu einer erweiterten Ansicht zusammenzusetzen. Das Sehzentrum seines Gehirns war – so gesehen – ununterbrochen mit Weitwinkelkompositionen beschäftigt.

Der Einsteinturm

Mendelsohns berufliche Karriere begann mit dem Einsteinturm. Man hat ihn als seine einzige „gebaute Skizze“ bezeichnet. Als Monument der Relativitätstheorie brachte dieser Bau es auf die Titelseiten Berliner Zeitungen und Mendelsohn den Ruf eines Erfinders werbewirksamer plakativer Architekturen, wobei der Name Einstein sicherlich keine unwesentliche Rolle spielte. Jedenfalls rannte Lachmann-Mosse, Verleger des Berliner Tageblatts, mit der Abbildung des Einsteinturms in seinem Journal durch sein Verlagshaus und befragte seine Mitarbeiter nach dem Namen des Architekten. Wie aus der Pistole geschossen konnte ihm jeder Auskunft geben. „Das ist der Architekt für meinen Umbau“ entschied der Verleger kurzerhand. Er hatte bereits etliche Architekten mit Entwürfen für eine neue aufzustockende Ecklösung seines Medientempels am Jerusalemer Platz in Berlin beauftragt. Keiner hatte ihn beeindrucken können, doch die zugkräftigen Schlagzeilen über den Erbauer des Einsteinturms überzeugten ihn.15

Die Geschichte des Potsdamer Sonnenobservatoriums, in dem der Astrophysiker Erwin Finlay-Freundlich durch empirische Prüfung den Beweis der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie erbringen wollte, ist schon oft und in aller Ausführlichkeit erzählt worden.16 Bekannt sind allemal die vielen Hindernisse, die Mendelsohn beim Bau seines Erstlingswerks zu überwinden hatte: Angefangen mit der zu leistenden Überzeugungsarbeit bei den örtlichen Baubehörden bis hin zu den Schwierigkeiten bei der Errichtung des Turms, für die Schiffsbauer hinzugezogen werden mussten, um die Verschalung hinzubiegen.

Am Ende war der Bau, der Mendelsohns Karriere und Ruhm begründen sollte, der zur Ikone des architektonischen Expressionismus avancierte und ein „Muss“ für jedes Architekturlexikon wurde, schlichtweg ein Debakel, ein Fiasko. Für den debütierenden Mendelsohn war der Auftrag im Namen Einsteins zunächst ein Glücksfall sondergleichen, dessen Ausführung ihm jedoch etliche schlaflose Nächte bereitet haben dürfte. „Nie wieder!“ so lautete denn auch sein Kommentar nach der Einweihung des Turms.17 Das nämlich, was den Beweis einer revolutionären nie-da-gewesenen Formensprache auf der Basis der neuen Baumaterialien Eisen und Beton antreten sollte, musste in großen Teilen ganz konventionell aus Ziegelsteinen aufgemauert werden, denn offensichtlich wussten selbst die herbeigeholten Schiffsbauer angesichts der windschiefen Flächen nicht weiter. Zu guter Letzt wurde alles einheitlich verputzt und getüncht, so als ob das Bauwerk aus einem Guss sei. Merkwürdigerweise hat diese „Lüge“ dem Ansehen des Gebäudes zu keiner Zeit wirklich Abbruch getan. Der Einsteinturm stand immer für das, was er vorstellen sollte, für die Ideen, die hinter ihm standen. Diese waren – Astrophysik wie Architektur gleichermaßen betreffend – so sensationell neu und wagemutig, dass die fehlende Beweisführung bzw. mangelhafte Umsetzung fast einem Gütesiegel gleichkam, bewies dies doch nur allzu deutlich, dass die antizipierten Möglichkeiten wirklich ihrer eigenen Zeit voraus waren.

Die Vorgaben für den Einsteinturm waren denkbar einfach gewesen: ein Turmteleskop in Form eines schornsteinförmigen Betonturms verbunden mit einem unterirdischen Laborraum, ebenerdig als Verbindung ein kleines, ein bis zwei Räume einschließendes Gebäude. Soweit Freundlichs Direktive an Mendelsohn gelautet, welche er mit den aufmunternden Worten beschlossen hatte: „Man kann ja auch aus einem so kleinen Projekt etwas Hübsches machen.“18

Mendelsohn hatte Freundlich in allen Punkten beim Wort genommen. Noch in den Schützengräben der höllischen Westfront hatte er in absolutem Alleingang erste Lösungen erarbeitet, die er nach dem Krieg weiterentwickelte. Das Ergebnis – weniger „hübsch“ als vielmehr dionysisch rauschhaft – war ein eruptiv amorphes, phallisch anmutendes Gebilde. Mendelsohn hatte aus dem Beton herauszuholen versucht, was seiner Meinung nach in ihm steckte. Er hatte ihn – zum Entsetzen einiger Fachleute – als Modelliermasse behandelt und daraus ein höchst eigenwilliges Unikat geformt, einen Zwitter aus Architektur und Skulptur. Damit war er – unvorhergesehen allerdings – einem Funktionswechsel entgegengekommen, der den Turm noch während seiner Errichtung ereilen sollte.

Wenngleich Einsteins Theorien nicht unangefochten waren – der originellste Vorwurf war sicherlich der des „wissenschaftlichen Dadaismus“19 – und er selbst vor fachlichen wie persönlichen Verleumdungen nicht gefeit war, so wendete sich das Blatt, als ihm der Nobelpreises für Physik zuerkannt wurde. Das war im Jahr 1921. Der Turm stand im Rohbau. Deutschland befand sich in einer tiefen Krise. Es hatte gerade einen Krieg verloren, wurde durch die Verträge von Versailles gedemütigt, zu erdrückenden Reparationszahlungen verpflichtet und ein Ende seiner wirtschaftlichen Misere war nicht abzusehen. Das einzige, was Deutschland zu seiner eigenen Ehrenrettung blieb, war seine geistige Größe, deren Verherrlichung sich zur Kompensierung seiner allseitigen Niederlage bestens eignete. Dass Deutschland auf dem Gebiet der Wissenschaften immer noch tonangebend war, bewies einmal mehr die Verleihung des Nobelpreises an einen deutschen Wissenschaftler. Es erlaubte, das Haupt in nationalem Stolz höher zu tragen. Und genau dieses Gefühl des erhabenen Selbstwertgefühls bediente der Einsteinturm – allerdings weniger in seiner ursprünglichen Funktion als experimentelles Labor, sondern vielmehr in einer neuen Bedeutung als Denkmal für Einstein, oder besser als Monument zur Glorifizierung der deutschen Wissenschaft.20

Einstein selbst zog sich von dem, was er abfällig den „Relativitätsrummel“ nannte, zurück. Dem Bauwerk, das seinen Namen trug, soll er nur wenig Sympathie entgegengebracht haben. Einer Anekdote zufolge lauschte er bei einer Besichtigungstour wortlos den Erklärungen Mendelsohns und brach sein Schweigen erst am Ende durch ein in des Architekten Ohr geflüstertes „Organisch!“.21 Was immer Einstein, wenn er es denn so geäußert hat, mit dieser Vokabel hat ausdrücken wollen, zielsicher hatte er einen Schlüsselbegriff gewählt, der, unter Berufung auf die Theorien Viollet-le-Ducs, den gesamten Diskurs um die moderne Architektur durchzog. In einer 1923 gehaltenen Rede in Amsterdam führte Mendelsohn aus, welche Bedeutung die drei Silben Einsteins für ihn selbst hatten. Er meinte, „dem Einsteinturm [müsse] sicher zugegeben werden, daß er ein klarer architektonischer Organismus ist. […] Man kann ihm, scheint mir, nicht ein Teil wegnehmen, ohne das Ganze zu zerstören, weder an der Masse, an der Bewegung, noch an seinem logischen Ablauf.“22

Mendelsohn distanzierte sich, zumindest im Büroalltag, von seinem expressionistischen Schaustück – wohl nicht zuletzt, weil es sich als unbaubar erwiesen hatte. In seinen nachfolgenden Entwürfen legte er sich Zügel an und beschränkte sich auf das Machbare. Doch sein Image als Künstler war bereits nachhaltig durch sein Erstlingswerk geprägt. Dass es für ihn Reklame machte und ihm Aufträge zu einer Zeit verschaffte, in der kaum jemand baute, war ein nicht zu unterschätzender positiver Effekt, der ihm selbst wohl bewußt war. Schon seinem spontanen „Nie wieder“, hatte er etwas gedämpfter hinzugefügt: „Und doch ist es gut, daß der Turm steht.“23

Unter seinen Berufsgenossen und den Kritikern war die Beurteilung geteilt. Paul Westheim, einer der führenden zeitgenössischen Kunsthistoriker und Expressionismus-Förderer, schrieb damals einen Essay über Mendelsohn. Er dürfte genau jene Ambivalenz von Bewunderung und Ablehnung getroffen haben, die dem Erbauer des Einsteinurms seinerzeit entgegenschlug: „Hätte er mehr von einem zünftigen Architekten, so hätte seine Bauweise mehr struktive Konsistenz, wahrscheinlich hätte sie dann aber auch viel weniger von der Schmissigkeit, durch die er die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Er hat das grandiose Selbstbewußtsein, das dem Genie und Dilletanten eigen ist. Daß er unzünftig ist, hindert ihn vielleicht, im eigentlichen Sinne Baumeister zu sein, gesattet ihm aber auch, mit der Baumasse auf eine naive Art zu wirtschaften, vor der der Mann von Metier, der an die praktische und zweckliche Durchgestaltung denkt, zurückschrecken würde.“ Das Potsdamer Observatorium bezeichnet er als „gigantisches Plakat“, das jedoch eher für seinen Baumeister wirbt als für seine eigentliche Aufgabe: „Es ist ein Mendelsohn-Turm“.24 Mit seinem Resümee dürfte Westheim den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Die Identifizierung mit diesem einen Werk begleitete Mendelsohn überall hin, selbst ins Exil. Als er im März 1947 seinen 60. Geburtstag bei Frank Lloyd Wright in Taliesin West feierte überraschten ihn dessen Studenten mit einer Geburtstagstorte in Form des Einsteinturms.25 Buttercreme und Sahne waren ohne Zweifel leichter zu formen als der Eisenbeton des Originals.

Der Architekt

“Bauen ist Glückseligkeit“.26 Mendelsohn meinte damit nicht die oberflächlichen Genugtuungen, die ein erfolgreich durchgeführtes und gut publiziertes Projekt mit sich bringen, sondern das Bauen an sich, den schöpferischen Akt. Das im Raum erstehen zu sehen, was der Geist erträumt hat. Sein Verständnis von der Profession des Architekten war holistisch, universal, total. Er sah im Architekten den Schöpfer. Nach der Art Gottes: Aus einem „unförmigen Haufen Steinen“ eine „Welt genauer Kräfte“ schaffen.27 Das trug ihn sein ganzes Leben hindurch und ließ ihn aufrecht gehen.

Später in Amerika wurde er einmal im Anschluß an einen Vortrag über sein eigenes Werk von einem Studenten gefragt, welcher Eigenschaften es bedürfe, um ein guter Architekt zu werden. Mendelsohn antwortete darauf, man müsse zunächst ein ganzer Mensch werden. Er fügte noch etwas über Kompromißlosigkeit, profunde Kenntnisse in Kostenkalkulation und Klientenpsychologie hinzu – aber dies, wie man herauszuhören vermeint, schon mit einem Augenzwinkern.28 Mit dem „ganzen Menschen“ war es Mendelsohn ernst. Hinter den simplen Worten verbarg sich sein hoch gesteckter Anspruch: Ein Architekt muss sich mit allen Dingen des Lebens auseinandersetzen: mit Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und Politik, Philosophie und Religion. Mendelsohns Idealarchitekt war kein Spezialist, sondern ein „Renaissancemensch“ nach Möglichkeit mit humanistischer Erziehung, die er durch permanente Weiterbildung in kulturhistorischen, aber auch aktuellen tagespolitischen Wissensbereichen ergänzte. Einen Rückzug auf eine reine Designer-Position oder auf ein Künstlertum im Elfenbeinturm abseits des tagespolitischen Geschehens lehnte er völlig ab. Da er Gebäude als Summe aller von ihrer Zeit gestellten Anforderungen begriff, so meinte er im Gegenzug auch, der Architekt sei durch seine umfassende Entwurfstätigkeit im besonderen Maße befähigt, die Strukturen des Weltgeschehens an sich zu begreifen. Es gibt von Mendelsohn zahlreiche Artikel, Abhandlungen, Vorträge mit allgemein kulturhistorischen und aktuellen politischen Inhalten.29 Themen, die weit über die Architektur hinausgehen, möchte man meinen, doch für Mendelsohn war ihre Kenntnis und Analyse Voraussetzung für das Entwerfen, also integraler Bestandteil von Architektur.

Auch wenn Bauen ihn auf Wolken gehen ließ, Architektur hatte mitten im Leben zu stehen: „Faß das Leben am Schopf, gerade dort wo sein lebendigstes Herz schlägt, mitten im Leben, mitten in Technik, Verkehr und Wirtschaft.“30

Das wurde nach dem Einsteinturm, der weniger Zweckbau als Manifest war, der eher galaktischen Sphären anzugehören scheint als dem Erdenalltag, immer wichtiger für ihn. Die Entwicklung, die Mendelsohns Architektur zwischen 1919 und 1930 durchmacht, ist dramatisch. Zwischen den Visionen der frühen Skizzen und des Einsteinturms und der reduzierten strengen Form seines eigenen Berliner Hauses oder des Columbushauses scheinen Welten zu liegen. Man hat versucht, die Genese seiner Architektur in Phasen zu unterteilen und eine jede mit einem Eigenschaftswort zu benennen: expressionistisch – kristallin – dynamisch-funktional – sachlich. Nach dem expressionistischen Debut des Einsteinturms wären wir mit „kristallin“ bei der Hutfabrik in Luckenwalde und beim Mossehaus in Berlin. Schräg angeschnittene Fensterbänder, spitz zulaufende Dachfenster, scharfkantige Dachüberhänge und schief ausgestellte Backsteinsimse. Das Hauptwerk seiner dynamisch-funktionalen Phase dürfte das Schocken Kaufhaus in Stuttgart sein. Hier geht es „um das Gewinnen eines Systems, in welchem die Baumassen miteinander in einem dynamischen Gleichgewicht stehen.“31 Seine anderen großen Warenhäuser aus der Mitte der Zwanziger Jahre fallen ebenfalls in diese Kategorie: C.A. Herpich in Berlin, Cohen-Epstein in Duisburg oder Petersdorf in Breslau, auch der WOGA Komplex in Berlin. Und dann schließlich die Hinwendung zur Neuen Sachlichkeit in seinen letzten Bauten in Deutschland: Warenhaus Schocken in Chemnitz, Columbus-Haus in Berlin und die eigene Villa in Berlin-Charlottenburg. Immer noch Dynamik, aber in größter Zurückhaltung. Die Beherrschung macht sie noch spannungsvoller.

Müssen wir diese „Abzweigung in die rechtwinklige Moderne“32, die Mendelsohn nach dem Fiasko des Einsteinturms, spätestens aber gegen Ende der Zwanziger Jahre nahm und die viele für bedauerlich halten, als ein Zugeständnis an das Machbare, an den Büroalltag, an die von außen an ihn herangetragenen Anforderungen, an den allgemeinen Trend sehen? Läßt sich darin nicht auch oder viel eher ein Prozess der Reife erkennen? Oder Stationen, wie sie jeder Liebende durchlebt – vom begeisterten Überschwang zur Konzentration auf das Wesentliche. In kritischer Selbstreflektion hat Mendelsohn Ähnliches einmal hinsichtlich des Schreibstils seiner frühen Briefe an Luise geäußert: „Sie enthalten im Kern alles, was ich auch jetzt erkenne, sie sind unreif, wie ich es damals war. Daher ihre Schwülstigkeit. Die Worte werden karger und einfacher in dem Maß, wie der Erfolg der Arbeit reicher und größer wird.“33 Die Simplizität der Form als Ausdruck der reiferen, reicheren Geisteshaltung: „Einfachheit, weil gerade die beste Leistung auch immer die einfachste ist.“34 Wie aber geht es nach der Reduktion auf das Wesentliche weiter? Ist die letzte Einfachheit nicht eine Sackgasse, zumal für die Form? Oder liegt der Fortgang in der Wiederholung? Wir wissen nicht, wie Mendelsohns nächster Bau nach dem Columbushaus ausgesehen hätte. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung war ihm vergönnt. Wäre er Ludwig Mies van der Rohe immer ähnlicher geworden? Mendelsohn selbst hätte das auf das Entschiedendste verneint: „Ist der Garten der Architektur nicht zu vielgestaltig, um in ihm nur die tektonische Einfachheit eines, sagen wir Gänseblümchens zu sehen und die imaginären Strukturen und die formale Überschwänglichkeit der Orchidee zu übersehen?“35 Mit dieser mokanten rhethorischen Frage konterte er Philip Johnsons Publikation zur großen Mies-Ausstellung im MOMA 1947.

Wie auch immer, mit der Emigration kamen andere Aufgaben in fremden Ländern auf Mendelsohn zu, verbunden mit neuen Eindrücken und Erfahrungen, denen er in seinen Architekturen gerecht zu werden versuchte. In Palästina (heute Israel) entwarf er mit der Vorstellung einer geistigen Renaissance des jüdischen Volkes im Sinne der großen jüdischen Philosophen Achad Haam und Martin Buber Universitätsgebäude, Bibliotheken, Krankenhäuser. Sein Stil ist ruhig, introvertiert, in Vertikalen sucht er die Verbindung zu den morgenländischen Wurzeln seines Volkes. In den USA, dem großen Auffanglager der Emigranten, entwickelte er sich zum Architekten der jüdischen Gemeinden. In seinen Synagogenbauten suchte er den großen Bogen, der zwischen einem Amerika der jüdischen Diaspora und einem Amerika als neues kosmopolitisches Zentrum vermittelt.

Betrachtet man Mendelsohns Werk insgesamt, so fällt auf, dass sein Oeuvre weder stilistisch noch typologisch homogen ist, sondern Sprünge und Stufen aufweist, die sich aus Mendelsohns Biografie erklären lassen, aber auch aus seinem grundsätzlich dialogischen, kontextuellen Ansatz. Begegnung und Dialog sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis von Mendelsohns Arbeitsmethode, sozusagen Grundmodi seines kreativen Schaffensprozesses. Das unterschied ihn wesentlich von Mies, für den sich der Schaffensprozess als ein in absoluter Abgeschiedenheit und Einsamkeit In-sich-Hineinhören gestaltete, als ein Warten auf die Idee, die sich langsam aus ihrem tiefsten Innersten heraus entwickelt: „In unendlich langsamer Enthüllung entsteht die grosse Form.“36 Mendelsohn dagegen suchte die aktive Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber – sei dies nun eine Person, z.B. der Auftraggeber, oder seien dies Bauvorgaben, Planungsfaktoren wie die Funktion, das Klima oder die Topografie. Der kontinuierliche Dialog zwischen verschiedenen Polen regte ihn zu immer neuen synthetischen Lösungen an. Während für Mies das Endergebnis, die sich langsam herausgeschälte endgültige Lösung im Vordergrund stand, war es für Mendelsohn der dynamische dialogische Prozess, der Weg, der zu einer speziellen Lösung führte. Seinem Oeuvre fehlt daher auch die Homogenität, die Mies’ Werk auszeichnet. Änderten sich die Grundbedingungen, änderten sich die Lösungen. In diesem Kontext haben Architekturhistoriker wie Norris Kelly Smith37 und Bruno Zevi38 auf die hebräische Tradition des flexiblen und synthetischen Denkens hingewiesen, in der das absolute, objektive Sein nicht existiert. Sein wird immer in Bezug gesetzt, ja es drückt sich allein aus durch seine Eigenschaft, seine Wirkung, seine Bewegung oder durch das Wesen seines Materials. Im Gegensatz dazu steht die formale Reinheit und zweckfreie Objektivität der klassischen Tradition des griechischen Denkens, für die Mies van der Rohe weithin als moderner Repräsentant angesehen wird.

Von Walther Gropius unterschied Mendelsohn viel, weit mehr als von Mies vermutlich. Auch hier ist die Entwurfsmethode wiederum entscheidend. Gropius konnte nicht zeichnen, aber er hatte die brilliante Fähigkeit, seine Ideen mündlich mitzuteilen, fähige Arbeitsgruppen zu formen und einen kreativen Teamgeist zu evozieren. Mendelsohns Büro dagegen war von Teamwork im eigentlichen Sinn weit entfernt. Natürlich waren fähige Leute angestellt, vor allem Ingenieure, und natürlich wurde Hand in Hand gearbeitet. Aber Mendelsohns Führungsstil war absolutistisch, patriarchalisch. Er duldete keinen anderen Gott neben sich. Seine Mitarbeiter suchte er nach ihrem technischen Können, nach ihren organisatorischen Fähigkeiten und nach ihrer Einsatzbereitschaft aus. Mangel an Originalität war, nach Posener, ein weiteres Kriterium für den Erfolg in seinen Diensten.39 Alle Partnerschaften, die Mendelsohn mit starken Designerpersönlichkeiten im Laufe seiner Berufspraxis einging – Richard Neutra und Serge Chermayeff beispielsweise – scheiterten nach kurzer Zeit. Mendelsohn sah sich als Künstler, die Architektur als Kunst, die das Genie im Alleingang schafft. Alle Bleistifte im Büro Mendelsohn waren mit seinem Namen versehen, wohl kaum, damit sie nicht geklaut würden, als eher als ständige Präsenz der Tatsache, dass diese Stifte in Stellvertreterposition das zeichnen, was seinem Bleistift entsprungen war. Das Büro war er.

Mendelsohns ungeheures Selbstvertrauen lag in seinen Fähigkeiten als entwerfender Architekt. Als er am Amsterdamer Bahnhof aus dem Nachtzug stieg, mit dem er und seine Frau aus Nazideutschland geflohen waren, traf er einen Berufskollegen, der ihn fragte, was er in Amsterdam suche. Mendelsohn zog seinen Bleistift aus der Jackentasche und kommentierte seine Geste mit der Anmerkung, er habe gerade sein Büro nach Amsterdam verlegt.

1 Brief EM an seine Frau Luise, P.L., 28.7.1918, maschinengetippte Abschrift Luise Ms, Sammlung der Autorin.

2 Brief EM an seine Frau Luise, Berlin, 10.11.1931, maschinengetippte Abschrift Luise Mendelsohns, Sammlung der Autorin.

3Erich Mendelsohn, „My Own Contribution to the Development of Modern Architecture“, in: Ita Heinze-Greenberg, Regina Stephan (Hrsg.). Erich Mendelsohn. Gedankenwelten. Ostfildern-Ruit 2000, S. 16.

4Louise Mendelsohn, Biographical Notes: Eric Mendelsohn. San Francisco o.J., S. 124.; Sammlung der Autorin.

5 EM, >>Palästina als künstlerisches Erlebnis<<, Vortrag, vermutlich für die zionistische Organisation „Blau-Weiß“ im Januar 1924 gehalten, in Auszügen veröffentlicht in: Heinze-Greenberg, Stephan, Gedankenwelten (wie Anm. 4), S. 136-139.

6 Brief EM an Oskar Beyer, Jerusalem, 30.4.1935, Sammlung Ralph Beyer, Teddington.

7 Julius Posener, >>Erich Mendelsohn<<, in: Arch +, 48, Dezember 1979,Sondernummer zum 75. Geburtstag von Julius Posener, S. 10.

8 Cathy Stoike, >>Vom „Viertelstundenakt“ zur freien Sinnlichkeit der Geschlechter“, in: Brücke und Berlin. 100 Jahre Expressionismus. Ausst. Kat. Neue Nationalgalerie, Berlin 2005., S. 78.

9 Walther heymann (1882-1915), ostpreußischer Dichter, bekannt vor allem durch seine „Nehrungsbilder“; befreundet mit Max Pechstein, über den er bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Monografie verfasste (erst 1916 publiziert), und mit Luise Maas, für die er „Tanzgedichte“ schrieb.

10 Louise Mendelsohn. My Life in a Changing World. San Francisco o.J., S. 92. In Auszügen publiziert in: Ita Heinze-Greenberg, Regina Stephan, Luise und Erich Mendelsohn. Eine Partnerschaft für die Kunst. Ostfildern-Ruit 2004, S. 48f.

11 EM an Luise, Wache Ilipau, 24.6.1917, in: Oskar Beyer (Hrsg.). Erich Mendelsohn. Briefe eines Architekten. Basel, Berlin, Boston 1991, S. 36.

12 Erich Mendelsohn, >>Background to Design<<. In: Architectural Forum,No. 253,April 1953, S. 160 f.

13 Louise Mendelsohn. My Life in a Changing World. San Francisco o.J., S. 92. Kopie des Manuskripts in der Sammlung der Autorin.

14 Erich Mendelsohn über seinen Entwurfsprozess, in: Paul Plaut. Die Psychologie der produktiven Persönlichkeit. Stuttgart 1929, p. 319

15 Interview der Autorin mit Louise Mendelsohn, San Francisco, Mai 1980. Tonbandaufnahmen in der Sammlung der Autorin.

16 Die umfassendste Publikation zum Thema ist: Der Einsteinturm in Potsdam. Hrsg. v. Astrophysikalischen Institut Potsdam. Berlin 1995.

17 Julius Posener, >>Erich Mendelsohn<<, in: Arch +, 48, Dezember 1979,Sondernummer zum 75. Geburtstag von Julius Posener, S. 8.

18 Brief E. Finlay-Freundlich an E.M., Berlin 2.7.1918, in: Sigrid Achenbach. Erich Mendelsohn: 1887-1953 Ideen, Bauten, Projekte. Berlin 1987, S. 61.

19 Friedrich Herneck. Albert Einstein. Leipzig 1986, S. 74.

20 Vgl. Auch: Norbert Huse, >>Facetten eines Baudenkmals<<, in ders. (Hrsg.). Der Einsteinturm. Geschichte einer Instandsetzung. Stuttgart/Zürich 2000, S. 17.

21 Arnold Whittick. Eric Mendelsohn. London 1940 (1956), S. 57.

22 Erich Mendelsohn, >>Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedanken oder Dynamik und Funktion<<, Vortrag gehalten in Amsterdam 1923; publiziert in: Erich Mendelsohn. Das Gesamtschaffen des Architekten. Skizzen, Entwürfe, Bauten. Berlin 1930, S. 33.

23 Posener (wie Anm. 3).

24 Paul Westheim, >>Mendelsohn<<, in: Das Kunstblatt, 7. Jg. (1923), S. 306.

25 Louise Mendelsohn. Biographical Notes: Eric Mendelsohn. San Francisco, o.J., S. 59. Sammlung Daria Joseph, Mill Valley.

26 Erich Mendelsohn, >>Own Work<<, Vortragsmanuskript Liverpool November 1933, KB Mss 23.

27 Paul Valéry. Eupalinos oder Der Architekt. Übersetzt von Rainer Maria Rilke. Farnkfurt/Main 1991, S. 45.

28 Erich Mendelsohn, >>What is Architecture about<<, Vortrag Berkeley, April 1953, Kassettenaufnahme. Sammlung der Autorin sowie im GRI, Series X, Box 42.

29 Siehe: Ita Heinze-Greenberg, Regina Stephan: Erich Mendelsohn. Gedankenwelten. Unbekannte Texte zu Architektur, Kulturgeschichte, Politik. Ostfildern-Ruit 2000.

30 Erich Mendelsohn, >>Warum diese Architektur<<, in: S Schocken Hauszeitung, Zwickau/Sachsen, September/Oktober 1926, S. 4 f. Publiziert in: Heinze-Greenberg/Stephan, Gedankenwelten (wie Anm. 4), S. 107 f.

31 Julius Posener, >>Erich Mendelsohn<<, in: Arch +, 48, Dezember 1979,Sondernummer zum 75. Geburtstag von Julius Posener, S. 8.

32 Richard Hunter, E-Mail Interview mit der Autorin, Sommer 2004, Manuskript in der Sammlung Richard Hunter und der Autorin.

33 EM an LM, München 25.9.1914, in: Oskar Beyer (Hrsg.), Erich Mendelsohn. Briefe eines Architekten, München 1961, Neuausg. Basel/Berlin/Boston 1991, S. 30.

34 Wie Anm. 5.

35 Eric Mendelsohn, Re: Johnson’s publication: Mies van der Rohe Exhibition, Museum of Modern Art, New York, 1947“ Manuskript KB Mss 56; publiziert in: Heinze-Greenberg, 2000 (wie Anm. 4), S. 92.

36 Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986, S. 326.

37 Norris Kelly Smith, Frank Lloyd Wright. A Study in Architectural Content, Watkins Glen, NY 1979, S. 52 ff.

38 Bruno Zevi, introduction to Erich Mendelsohn, Ausst.Kat. des Vereins Deutsches Bauzentrum e.V. und der Akademie der Künste, Berlin 1968, S. 7ff

39 Julius Posener. Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. München 2004, S. 401.

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